Grosse Gefühle - klar formuliert
Der tschechische Barockdirigent Václav Luks und der dänische Tenor / Haute-Contre Valdemar Villadsen geben mit Jean-Marie Leclairs »Skylla und Glaukos« ihr Debüt am Kieler Opernhaus. Dramaturg Ulrich Frey traf die beiden zum Gespräch.
Hallo, Václav Luks und Valdemar Villadsen, und herzlich willkommen in Kiel! Zunächst eine Frage an Václav: Du giltst als Experte für Barockmusik mit besonderem Schwerpunkt auf tschechische Meister wie Zelenka oder Mysliveček. Gerade die Musik des Barock ist sehr stark in unterschiedliche Schulen eingeteilt, von denen die französischen und die italienischen Stile sehr stark getrennt wurden. Macht es für Dich einen Unterschied, ob Du italienische oder französische Werke dirigierst?
VÁCLAV LUKS: Naja, es gibt ja nicht nur französisch oder italienisch! Eine der interessanten Sachen der Barockzeit ist, dass es so viele verschiedene Stile gibt, zum Beispiel auch den »gemischten Stil« (oder »deutschen« Stil). Aber auch innerhalb von Italien hat man in verschiedenen Städten ganz anders Musik gepflegt, ganz anders in Rom etwa als in Venedig, und zwar grundsätzlich anders. Und das gleiche kann man auch über Frankreich sagen, das natürlich viel stärker zentralisiert war. Was wichtig war, geschah vorwiegend am Hof, also bei Louis XIV. Diese immense kulturelle Ausstrahlung des Hofes war stärker als in Italien oder auch in anderen Ländern… und diese unglaublich spannende Vielfalt betrifft nicht nur lokale Traditionen, sondern auch verschiedene Zeiten!
Das kann man mit Popmusik von heute vergleichen: natürlich weiß heute jeder, dass Musik in den 1980ern anders war als in den 1990ern. Und genauso ist etwa die römische Musik in den 1690ern ganz anders als in den 1680ern usw… Und deshalb zu sagen Barockmusik macht man so und so… oder es gibt zwei Schulen, das ist so als würde man sagen: Es gibt Rock-Musik und Pop-Musik im 20. Jahrhundert, und das ist alles.
VALDEMAR VILLADSEN: (lacht) Sehr gut!
VÁCLAV LUKS: Die französische Musik ist für mich ein Stein dieses großen Mosaiks, der sehr interessant ist. Aber was heißt schon »Barockexperte«! Da denkt man, wir seien für einen bestimmten kleinen Zeitraum spezialisiert, aber ich mache doch Musik von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zur Frühromantik, das sind weit mehr als zwei Jahrhunderte, und ein klassischer Musiker macht selten etwas, was vor Bach ist, und bis zum 20. Jahrhundert ist das ungefähr die gleiche Zeitspanne.
Als ich jedenfalls zum ersten Mal die Musik von »Skylla und Glaukos« (oder »Scylla et Glaucus«) auf CD gehört habe, war mein erster Eindruck: das klingt ja sehr italienisch für eine französische Barockoper. Leclair war ja Geiger und hat sich an italienischen Vorbildern orientiert. Ist das so? Kann man sagen, dass es italienische Einflüsse in dieser Musik gibt?
VÁCLAV LUKS: Jein! Klar gibt es die, aber auf verschiedenen Ebenen muss man das unterscheiden. Formell, also was das Genre »tragédie lyrique« betrifft, bleibt Leclair ganz bei dem Muster von Lully und Rameau, und diese Tradition ist einfach 100%ig französisch, da ist irgendwie nichts Italienisches dran. Aber was natürlich italienisch ist: Sein Umgang mit dem Orchester und vor allem mit der Stimme der ersten Violine. Das ist virtuos und sehr »italienisch« geprägt, und ich denke, das ist auch der Grund, warum auch diese Musik gleich nach der Premiere vergessen wurde. Nach den ersten Aufführungen hat man sie einfach nicht weiter gespielt. Ich glaube, für die Franzosen war es zu wenig französisch und für die Italiener zu wenig italienisch. Das ist oft so für diese Komponisten, die in den Stilen irgendwo zwischen den Stühlen hängen, und das ist dann immer ein bisschen schwierig in der Zukunft.
Wie würdet ihr generell die Musik von Leclair charakterisieren? Was ist in Euren Augen das »Besondere« an seinem Werk?
VALDEMAR VILLADSEN: Ich finde die Musik technisch sehr ausdrucksstark, würde ich sagen. Mag sein, dass das auch ein italienischer Einfluss ist. Es gibt sehr viel Klarheit in dieser Musik, aber auch wahnsinnig viel Ausdruck, und wahnsinnig starke Leidenschaften, musikalisch als auch textlich gesehen, das ist in der Tat vielleicht ein bisschen italienisch. Ich habe auch bereits eine italienische Haute-Contre-Partie von Cavalli gesungen und vielleicht ist das eine gewisse Gemeinsamkeit.
VÁCLAV LUKS: Dass der Ausdruck so offen ist, so »indiskret« für französische Verhältnisse, meinst Du?
VALDEMAR VILLADSEN: Ja, genau!
VÁCLAV LUKS: Und dass alles so klar deklariert ist! Ich finde auch, dass die Geschichte natürlich ziemlich einfach ist, aber die Dialoge, die Konflikte, in denen die handelnden Personen aufeinander stoßen, und wie die Dialoge gebaut sind, das finde ich schon phänomenal!
Ich finde es auch dem Libretto gegenüber unfair, dass es oft so schlechtgemacht worden ist. Es funktioniert vielleicht nicht so gut als reines Leselibretto: Wenn man es nur liest, kann man vielleicht über den Wechsel von Scylla vom ersten zum dritten Akt überrascht sein, nämlich dass sie Glaucus plötzlich liebt, auch wenn sie das im ersten Akt bis zum Aktschluss so vehement verneint hat. Aber das sind ja auch Ausdrucksänderungen, die nicht in der Sprache liegen, die viel mit Körpersprache zu tun haben. Da ist vieles durch das Ausagieren erklärlich. Auch der Stimmungswechsel von Circe im vierten Akt, die die beiden Liebenden gehen lässt und direkt danach ihre Rache plant. Das ist sprachlich vielleicht überraschend, aber emotional nicht.
VALDEMAR VILLADSEN: Das ist eine ganz natürliche Reaktion. Ich habe auch irgendwo im Internet gelesen, dass es an dem schlechten Libretto gelegen haben soll, dass das Stück nicht weiter gespielt wurde, und das finde ich völlig falsch! Also ich finde das Libretto sehr spannend!
VÁCLAV LUKS: Ich glaube, solche Sachen schreiben einfach Leute, die das Libretto selbst nicht gelesen haben, sondern nur eine Inhaltsangabe davon. Natürlich ist das bei Barockopern meistens so – das sage ich immer: wenn man nur eine Kurzfassung der Geschichte liest, denkt man: »Was ist das für ein Quatsch!« Also zum Beispiel in der italienischen Oper mit der großen Vorliebe für Personenverwechslungen, mit diesem unglaublichen Chaos, in dem man nicht weiß, wer wer ist, und am Ende stehen zwei Hochzeiten, happy end usw… Aber die Geschichte ist schlussendlich nicht das Wichtigste. Inhaltlich hat die Geschichten auch jeder gekannt. Man war nicht gespannt, wie das am Ende ausgeht. Die Metamorphosen von Ovid hatte ja jeder gelesen! Also wer ein bisschen gebildet war, hat das gekannt… Heutzutage wollen wir unterhalten werden, Entertainment heißt das, wir gucken Filme oder Fernsehserien und wollen gespannt sein, wie es ausgeht, aber das ist total banal eigentlich… sobald man es erfahren hat, kann man alles wieder vergessen.
Aber was diese Libretti ausmacht, ist die Qualität des Textes! Und das muss man dann auch lesen und wird schätzen lernen, was für ein fantastischer Dichter z.B. Metastasio war! Bei unseren Strichen in »Skylla und Glaukos« – natürlich muss man auch Teile der Oper streichen, wegen der Länge – bin ich sehr froh, dass wir einen ganzen Block aus dem Stück herausgenommen haben, und nicht wie so oft das Libretto zerstückelt haben. Dadurch vernichtet man einfach komplett die Kunst des Dichters! Es gibt ja auch Reime und Textstrukturen etc. und auch das hat die Leute interessiert! Die ganzen Libretti von Metastasio etwa waren sehr berühmt und bei Opernaufführungen waren die Leute bei jeder Szene gespannt, wie der jeweilige Komponist sie gelöst hat.
Ähnlich wie heute, wo das reguläre Opernrepertoire auch begrenzt ist, interessant sein kann, wie ein bestimmter Regisseur z.B. eine »Traviata« inszeniert. Damals war der Komponist der »Regisseur«.
VÁCLAV LUKS: Das hat die Leute natürlich interessiert. Und dann in der italienischen Oper natürlich die Vokalvirtuosität, das ist klar. Aber im großen und ganzen sind die barocken Libretti – natürlich die guten, es gibt auch schlechtere, Händel z.B. hat nicht immer die besten gehabt – aber die guten Libretti dieser Zeit sind in ihrer literarischen Qualität viel größer als das ganze 19. Jahrhundert. Also im Vergleich zu Scylla et Glaucus ist Carmen etwa ein drittklassiges Groschenheft. Aber die Kunst im 19. Jahrhundert wurde ja auch für ganz andere Schichten geschrieben, nämlich für die zu Reichtum gekommene, gerade neu etablierte mittlere Schicht, das Bürgertum… die Libretti im Barock hingegen sind für richtig gebildete Upper-Class-People, vorwiegend Adelige, geschrieben.
Was ich bei der französischen Barockoper immer interessant finde ist die Bedeutung der Rezitative. Klar, das ist auch bei den Italienern so, dass die Rezitative Handlungsträger sind, aber hier bei den Franzosen hat das noch einen anderen Stellenwert – die dramatisch interessanten Passagen geschehen alle im Rezitativ – z.B. auch Scyllas Verwandlung am Ende wird vorwiegend rezitativisch abgehandelt.
VÁCLAV LUKS: Die französischen Rezitative sind ganz anders strukturiert als italienische Rezitative und viel genauer geschrieben, als das die Italiener gemacht haben.
Der Dirigent muss ständig den Takt wechseln!
VÁCLAV LUKS: Genau! Durch Schlagproportionen haben die Franzosen die ganzen Accelerandi und Ritardandi auskomponiert sozusagen. Wenn man also die Bewegung beschleunigen wollte, dann ist man vom 4/4-Takt zum halbierten Takt, ein Ritardando kommt dann wieder durch einen 3/4-Takt… der Schlag des Dirigenten bleibt dabei immer gleich und nur die Notenwertverhältnisse werden sozusagen durch den Komponisten manipuliert. Natürlich muss man das erst einmal gut lesen und dann kann man davon auch ein bisschen Abstand nehmen. Hauptsache ist, dass die Übergänge fließend sind. Das ist nicht so leicht, es muss eine organische Linie entstehen, auf der sich die musikalische Bewegung beschleunigt und wieder verlangsamt. Aber das ist durch diese Taktangaben vorgegeben. Italienische Rezitative sind im Prinzip als Achtelnoten und ab und zu eine Sechzehntelnote notiert. Da hat man natürlich viel mehr Freiheit. Der Interpret muss dann selber entscheiden, wo schnell und wo langsam…
VALDEMAR VILLADSEN: Das finde ich auch wirklich super in der französischen Barockmusik, dass der Puls so durchgängig bleibt, dass es also diese Struktur gibt. Mancher sagt, französische Barockmusik sei so »parfümiert«… wohl wegen der ganzen Triller und der gewissen »Leichtigkeit« der Musik. Aber man darf nie vergessen, dass sie von Leuten geschrieben und auch ausgeführt wurde, die sich jederzeit bis auf den Tod duellieren konnten! Es ist wichtig, nicht zu vergessen, dass es diese wahnsinnig großen Passionen darin gibt! Dass es nicht nur diese leichte Eleganz hat. Von der Musik her ist das sehr leicht, aber wichtig ist, dass im Mittelpunkt die Leidenschaft steht!
VÁCLAV LUKS: Ich würde das nicht unbedingt »leicht« nennen!
Zum Beispiel die Beschwörungszzene der Circe im vierten Akt – sie ruft die Götter der Unterwelt, allen voran die Hexengöttin Hekate an –ist ja schon fast »hochdramatisch«!
VALDEMAR VILLADSEN: Jaja, natürlich! Aber als Haute-Contre denke ich natürlich wegen meiner Gesangspartie (Triller etc.) an eine gewisse Leichtigkeit!
VÁCLAV LUKS: Ich würde eher sagen, dass in dieser Musik alles sehr klar formuliert ist, und sehr stilisiert. »Versaillisiert« sozusagen. Ich glaube es ist gut, sich Versailles vor Augen zu führen, den französischen Barockklassizismus. Alles ist unglaublich pompös und groß, aber es hat auch eine sehr klare Ordnung, genau wie die Hierarchie am Hof, oder überhaupt die Denkweise bei den Franzosen damals: auf der Spitze der Pyramide sind Gott und der König fast auf gleicher Ebene, der König war damals der einzige Monarch auf der Welt, der nicht der Kirche untergeordnet war!
Und dann gibt es diese Hofstruktur, ganz präzise formuliert bis nach unten.
Und hier ist es auch so, die Gefühle sind ganz stark, aber ganz präzise formuliert… und das ist der Unterschied zur italienischen Oper, wo man uneingeschränkt war im Ausdruck – je nach Interpret natürlich, es gab da auch verschiedene Sänger. Es gab tolle Schauspieler und tolle Sänger… ja, das ist auch verbürgt, dass es Sänger gab, die großen Erfolg hatten durch ihren schauspielerischen Ausdruck… Nun, jedenfalls finde ich die Formulierung »klar und präzise« besser als »parfürmiert und leicht« in Bezug auf die französische Musik…
VALDEMAR VILLADSEN: Für mich ist es ja auch nicht parfümiert… aber hauptsächlich deshalb, weil der Rhythmus und der »Tactus« so wichtig sind! Die rhythmische Struktur ist, wie du sagst, sehr genau, und wenn man das drauf hat, dann ist es überhaupt nicht parfümiert. Oder sonst wäre es ein sehr sehr gutes Parfum, würde ich sagen. (lacht) Andernfalls würde ich das auch nicht machen. Das ist genau das, was auch sehr cool ist an französischer Barockmusik: dass du sehr große Freiheit in sehr sehr festen Grenzen hast. Das finde ich toll!
Mal ganz direkt gefragt: worum geht es in »Scylla et Glaucus« für Euch? Gibt es ein Thema bzw. eine Aussage des Stücks? Etwa, dass Eifersucht schrecklich ist und man sich vor zu starken Gefühlen hüten möge?
VALDEMAR VILLADSEN: Ich finde es inhaltlich ein klassisches »Love Triangle«. Und das berührt so viele Themen... Bei Glaucus finde ich interessant, dass er ein Halbgott ist und sich die ganze Oper hindurch zum Menschen hin entwickelt. In den Augen der Götter wird er vielleicht schwächer. Aber für mich ist es eine große und tolle Entwicklung. Er bekommt auch eine große Stärke dadurch, dass er Liebe empfindet. Er entdeckt, wie man eine Frau liebt und in diesem Abstieg entwickelt er sich zu menschlicher Größe.
VÁCLAV LUKS: Grundsätzlich gilt für Ovid, für die »Metamorphosen«, aber auch für diese Oper: diese Literatur ist eben so unsterblich, weil die ganzen Götter und Halbgötter sich auch menschlich benehmen. Man kann sich selbst mehr oder weniger darin erkennen. Das ist nicht etwas Schwebendes über uns, das man nicht anfassen kann. Mich berührt auch diese menschliche Seite von Glaucus…
Auch Circé finde ich sehr berührend, sie wird ja in ihrer Liebessehnsucht höchst menschlich dargestellt!
VÁCLAV LUKS.: Scylla finde ich eigentlich die rührendste Rolle, weil sie für nichts, was passiert, etwas kann… ihre einzige Schwäche ist, dass sie sich nicht entscheiden kann. Man könnte sagen, jeder hat ein Recht, jemanden abzulehnen, aber sie wird dafür bestraft! Und zwar so grausam bestraft, dass sie von einer heiteren Nymphe zu einem Monster wird! Das ist furchtbar! Und am Ende heißt es noch, ihr Schicksal sei der Schrecken des Universums! Sie ist ein Figürchen im Spiel des Schicksals… Wie man manchmal als Mensch… oder Nymphe oder Halbgott… so wenig Einfluss haben kann, auf das, was mit einem passiert… natürlich haben wir unsere Verantwortung für unsere Taten, aber manchmal ist das Schicksal – wie man in dieser Oper sieht – einfach über uns und kann uns in eine Situation hineinmanipulieren, gegen die man einfach nichts machen kann. Genauso können wir hier gerade glücklich sein, dass wir jetzt im Europa des späten 20. Jahrhunderts geboren sind, aber die Menschen, die jetzt etwa in Syrien geboren sind, haben nicht so viel Glück…
Ja, dieses Schicksal haben sie sich nicht ausgesucht.
VALDEMAR VILLADSEN: Und Liebe kann immer negativ sein… es ist natürlich auch ein schönes Ding, aber das Ende ist überhaupt kein Happy End … das ist auch ziemlich realistisch! So kann Liebe auch aussehen. Ganz hart.
Jetzt eine persönliche Frage an Dich, Valdemar: wie wird man »Haute-Contre«? Und warum? Du hast wahrscheinlich als Kind nicht gesagt, »ich will mal Haute-Contre“ werden«, oder?
VALDEMAR VILLADSEN: (lacht) Nee! Also ich bin von Natur aus ein sehr hoher Tenor. Aber noch kein Countertenor. Wir Männer haben zwei Stimmen: die Kopfstimme und die Bruststimme. Als klassischer Sänger musst du das immer mischen, was die Franzosen »voix mixte« nennen. Aber als Countertenor brauchst du mehr Kopfstimme und als Tenor brauchst Du mehr Bruststimme. Ich finde es aber sehr lustig, das zu variieren, also beide Stimmen zu brauchen, meine Tenorstimme und meine Kopfstimme. Das ist ein ganz natürlicher Ausdruck für mich. Und das hat für moderne Ohren fast Countertenor-Qualitäten dabei… das ist so zart, so leicht… Ich finde diese Mischung von Zärtlichkeit und Potenz sehr interessant. Das kann man natürlich auch als Countertenor machen… mit diesen Farben kannst Du als Sänger immer spielen, egal welches Stimmfach du hast.
Wenn du zum Beispiel Justin Timberlake oder Michael Jackson hörst, diese Pop- oder Rocksänger singen immer sehr viel mit Kopfstimme. Michael Jackson zum Beispiel kann dann aber plötzlich auch sehr wild, sehr potent sein, und diese Mischung macht mir persönlich sehr Spaß. Und da fühle ich mich im Haute-Contre-Fach sehr wohl, obwohl ich eigentlich meistens Tenor singe, Mainstream-Oper und so. Es ist natürlich auch super schwierig für mich, plötzlich mit so viel Kopfstimme in einer ganzen Partie zu singen, weil dieser »Glaucus« ist wahnsinnig hoch, auch viel höher als zum Beispiel als der »Castor« in Castor et Pollux von Rameau, den ich auch gesungen habe. Und deswegen muss ich manchmal fast wie ein Countertenor singen, und da in meiner eigenen Stimme zu bleiben, ist eine schöne aber große Herausforderung!
Habt ihr besondere Highlights in diesem Werk – persönlich gesprochen?
VALDEMAR VILLADSEN: Nee, also… Gott sei Dank nicht, würde ich sagen. Für Glaucus gibt es wahnsinnig viele von diesen Möglichkeiten, und es ist auch toll, dass Vacláv das nicht unbedingt ganz zärtlich möchte oder volle Power… dass ich Freiheit habe, alle diese Farben auszudrücken… also das ist eine tolle Partie, weil es wirklich viele Farben gibt. Aber einen speziellen Lieblingsmoment habe ich nicht so ganz genau.
VÁCLAV LUKS: Ich denke es gibt einfach viele besondere Momente, je nachdem was man sucht, oder was man in dem Moment gerade für attraktiv betrachtet. Leclair konnte auch sehr publikumsfreundlich sein, es gibt also für die Zuhörer sehr viele musikalisch attraktive Teile, nicht nur das Drama in den Rezitativen. Rein musikalisch ist einer von den schönsten Teilen für mich die große Passacaille im zweiten Akt. Es ist ein großes Passacaille-Ballett, wo auch der Begriff vom »französischen Gesamtkunstwerk« wirklich zur Geltung kommt: man hat auf einmal Soli, Chor, Ballett und Orchester, also diese Idee von einer komplexen Kunst ist auch keine Erfindung von Wagner! Auch diese ganze Dramaturgie, dass das alles unter einem Bogen läuft, dass man nicht wie in der italienischen Oper geschlossene Nummern hat, Rezitativ und Arie usw., sondern dass die Rezitative eher arios sind und sie dann irgendwie in ein Accompagnato übergehen, und in eine Arie, dass alles so wie eine Kette miteinander verbunden ist, das ist auch dramaturgisch eine großartige Leistung, finde ich!
Gerade sind schon die Orchesterproben für das Werk im Gange. Wie ist die Arbeit mit einem »Allround«-Orchester für Dich, das von Barock bis Zeitgenössisch alles spielt, aber vorwiegend im Romantischen Repertoire zu Hause ist?
VÁCLAV LUKS: Ich finde die Zusammenarbeit ganz toll. Ich muss aber auch sagen, dass französische Barockmusik auch für ein spezialisiertes Orchester immer sehr viel Arbeit ist. Ich finde überhaupt, von der Barockoper ist diese späte französische Oper eine der schwierigsten Sachen, die man machen kann. Auch die technischen Herausforderungen sind extrem hoch und musikalisch ist es sowieso sehr komplex. Man muss diese Ästhetik wie eine andere Sprache lernen! Und da geht es nicht darum, die richtigen Bogenstriche zu entscheiden, und die richtigen Piano und Forte in die Noten reinzuschreiben, sondern die ganze Klangsprache und die Ästhetik in die Knochen zu bekommen! Das ist eine große Arbeit aber ich finde das Orchester macht es ganz toll. Ich weiß, dass hier vor zwei Jahren Lullys Atys gemacht wurde, aber musikalisch und technisch finde ich Leclair noch schwerer. Man merkt aber auch, dass es schon Erfahrung mit dieser Musik gibt und dass man nicht so ganz von null beginnt, also es gibt ein Potential, das man gut weiterentwickeln kann.
Vielen Dank Euch beiden für das Gespräch!